Die helvetisch-römischen Bevölkerung
Es gab Zeiten, in denen das ganze Land, das heute die Schweiz ist, mehr oder weniger einsprachig war. Dies war schon zur Zeit der Kelten der Fall, aber auch danach in der römischen Epoche. Im 1. Jh. vor Chr. war es Rom gelungen, den ganzen Alpenraum zu erobern. Dabei konnten die Römer auch die im westlichen Mittelland siedelnden keltischen Helvetier, ein Prozess, der bestens dokumentiert ist, weil der Mann, der dies zustande brachte,Julius Cäsar, zwecks Eigenwerbung seinen Krieg zuhanden des römischen Senats schriftlich bis ins Detail dokumentiert hat. Die römische Herrschaft brachte den Kelten grosse kulturelle und technologische Neuerungen: Strassen, Bäder, Wein und vieles mehr. Mit diesem gewaltigen und gewaltsamen Zivilisationsprozess einher ging die Ausbreitung der römischen Sprache, des Lateins.
Die Römer haben keineswegs den keltischen Untertanen ihre Sprache aufgezwungen. Diese gingen aus eigenem Antrieb auf die neue Sprache über, so wie auch die heutigen Schweizer freiwillig Englisch lernen. Denn viele betrachteten die römische Kultur als nützlich, und man musste Latein können, um sich in der neuen römischen Welt zurechtzufinden und Erfolg zu haben. Die meisten übernahmen das Latein der römischen Soldaten und Händler, und zwar im mündlichen Verkehr des Alltags. Wobei ein Teil der Kelten zu Beginn wohl auch die alten keltischen Sprachen weiter sprach, also eine Art Mehrsprachigkeit praktizierte.
Im 4. Bis 5. Jahrhundert, konnte praktisch alle Menschen, die auf Schweizer Gebiet lebten, Latein sprechen. Allerdings begann sich der lateinische Sprachraum schon damals in unterschiedliche Dialekträume aufzuteilen.
Die Burgunder
Im 5. Jh. liessen sich Im westlichen Mittelland die ersten Germanen nieder. Dies geschah aber nicht auf kriegerische, sondern auf friedliche Art. Der römische General Aëtius, Regent im weströmischen Imperium, hatte die raffinierte Idee, zur Sicherung der römischen Reichsgrenzen germanische Verbündete in Grenznähe anzusiedeln. Eine Chronik berichtet, dass um das Jahr 443 Reste der Burgunder, die ursprünglich in der Gegend von Worms gewohnt hatten und dort von den Hunnen Attilas aufgerieben worden waren auf Aëtius’ Geheiss in der «Sapaudia» (wörtlich: Tannenland) angesiedelt wurden. Was genau unter «Sapaudia» – aus dem Begriff ist «Savoyen» hervorgegangen – zu verstehen ist, weiss man nicht, aber vermutlich handelt es sich um den Raum nördlich und südlich des Genfersees. Das heisst: Ein Teil der Burgunder kam in die heutige Romandie, und mit ihnen auch ihre germanische Sprache.
Doch innert kürzester Zeit verschwand diese Sprache. Es ist anzunehmen, dass die Burgunder nach einer Phase der Zweisprachigkeit rasch die Sprache der helvetisch-römischen Bevölkerung übernahmen. Und dies so gründlich, dass nur wenig von der burgundischen Sprache übrig blieb, nämlich einige Wörter aus einem Gesetz sowie eine Handvoll Eigennamen und Ortsnamen.
Die Alamannen
Ganz anders aber die Entwicklung im östlichen Schweizer Mittelland. Hier wanderten nach dem Zerbröckeln des Römischen Reichs – vermutlich ab dem 6. Jh. – von Norden her alamannische Siedler ein, und diese brachten, wie zuvor die Burgunder in der Romandie, ihre germanische Sprache mit. Auch dieser Prozess verlief wahrscheinlich friedlich: Die Alamannen liessen sich meist in unbewohnten oder von der helvetisch-romanischen Bevölkerung verlassenen Gegenden nieder. Aber anders als die Burgunder hielten sie an ihrer Sprache fest und liessen sich nicht romanisieren. Das östliche Mittelland wurde vielmehr alemannisiert. Eine Deutschschweiz entstand, gleichsam als Keil zwischen den romanischen Sprachgegenden. Nach und nach entstand im Mittelland eine von Norden nach Süden laufende germanisch-helvetisch-romanische Trennlinie. Allerdings verlief dieser Prozess über Jahrzehnte, ja über Jahrhunderte. Wahrscheinlich bildete die Deutschschweiz – vor allem die westlich der Reuss gelegene «burgundische» Region um Basel, Biel, Solothurn und Bern – noch während Jahrhunderten eine alemannische-helvetisch-romanische Mischzone. Ortsnamen wie «Wohlen» («bei den Welschen») verweisen auf diese sprachliche Koexistenz. Erst nach und nach bildeten sich die Sprachinseln zurück, indem sich die helvetisch-romanische Bevölkerung an die alemannische Bevölkerung anpassten. Es entstand eine Sprachgrenze, die im grossen Ganzen der heutigen Trennlinie zwischen deutscher und welscher Schweiz entspricht. Im grossen Ganzen allerdings nur: Beispielsweise das Murtenbiet wurde erst ab dem 16. Jahrhundert unter bernischem Einfluss endgültig germanisiert.
Assimilation oder nicht-assimilation
Weshalb haben sich die germanischen Burgunder assimiliert, nicht aber die germanischen Alemannen? Eine mögliche Antwort liegt in der Zahl der Immigranten. Die Burgunder kamen in kleiner Zahl und trafen auf eine relativ dichte und intensiv romanisierte Bevölkerung. Zudem waren die Burgunder Kriegsflüchtlinge und hatten offenbar keinen anderen Wunsch, als sich am neuen Ort zu integrieren. Auch kamen sie als Verbündete, nicht als Feinde ins Land. Überdies lebten sie bereits seit Jahrzehnten im Kontakt mit der römischen Kultur und waren teilweise bereits romanisiert. Und schliesslich waren sie Christen (Arianer). Der Kontakt mit den Romanen verlief deshalb relativ reibungslos, und Mischheiraten zwischen Burgundern und Romanen wurden bald eine Selbstverständlichkeit.
Die Alemannen dagegen kamen später, zu einer Zeit, als die römischen Strukturen bereits in Trümmern lagen, und sie kamen in eine weniger dicht besiedelte und teilweise verlassene und öde Gegend. Sie liessen sich ja meist an den Orten nieder, die von den Einheimischen nicht mehr bewohnt wurden. Die romanischen Bewohner zogen sich derweil in die Städte und in die Nähe der helvetisch-römischen Festungen zurück. Zudem waren die Alemannen Heiden und wurden erst später von Glaubenboten christianisiert. Der kulturelle Abstand zur romanischen Bevölkerung war also grösser als bei den Burgundern. All diese Faktoren haben möglicherweise ihre sprachliche Assimilation erschwert.
Die Germanisierung der heutigen Deutschschweiz wiederspricht den anderswo gemachten Beobachtungen, dass die Landbevölkerung in der Regel die Sprache der Städte und Marktorte annimmt und dass sich die Immigranten meistens der ansässigen Bevölkerung anpassen. Vielleicht hängt dieses überraschende Phänomen mit den grossen Pest- oder Pockenepidemien zusammen, die Westeuropa in den Jahren 540 bis 690 heimsuchten und möglicherweise die helvetisch-romanischen Stadtbewohner härter trafen als die auf zerstreuten Bauernhöfen lebende alamannische Landbevölkerung.
Quelle: C. Büchi, NZZ